29 November, 2006

Sprachen und Organismen: Von Ringdialekten und Spezieskontinua.

Die Anzahl der Parallelen zwischen Sprache(n) und biologischen Organismen ist groß. Und, das Erstaunlichste, sie wird nicht kleiner, je näher man sich mit beiden Bereichen zu beschäftigen beginnt.

Ein Beispiel, das mir erst kürzlich untergekommen ist: Ringspezies und Dialektkontinua.

Ein verbreiteter Versuch, "Sprachen" nach streng linguistischen Kriterien abzugrenzen, baut auf der gegenseitigen Verständlichkeit auf: Wenn Sprecher zweier Varietäten sich miteinander verständigen können, ohne auf eine dritte Variante ("Dachsprache") auszuweichen, und ohne, dass auch nur einer zuvor mit der Varietät des anderen zu tun gehabt hätte, dann sprechen wir von einer Sprache. Ist dies nicht, oder nur mit großen Mühen, möglich, so handelt es sich um mehrere Sprachen. Wie so oft zeigt sich auch hier, dass "Sprache" ein politischer und kein linguistischer Begriff ist. Nicht nur gibt es das Problem, dass "gegenseitige Verständlichkeit" kein binärer Parameter sondern eine graduelle Unterscheidung ist, sondern es stellt sich auch die Frage, wie eine solche Definition mit Dialektkontinua umgehen soll.

Eine verbreitete und weithin akzeptierte Definition von "Spezies" in der (theoretischen) Biologie lautet in etwa folgendermaßen: Es handelt sich um *eine* Spezies, wenn eine Kreuzung möglich ist, wenn sich also Angehörige zweier Populationen paaren können und dabei noch fruchtbaren Nachwuchs erzeugen. Abgesehen von den Schwierigkeiten, die eine solche Definition - aus offensichtlichen Gründen - in der Paläontologie stellt (wir sind noch nicht so weit, als dass wir Kreuzungsversuche zwischen versteinerten Knochen unternehmen könnten), und abgesehen davon, dass sich selbst Biologen in der Praxis oft nicht strikt an diese Definition halten, sondern von zwei Spezies reden, sobald es signifikante anatomische Unterschiede gibt und die Populationen isoliert genug sind, um eine Kreuzung in freier Wildbahn eher zur Ausnahme als zur Regel zu machen, stellt sich auch bei dieser Definition die Frage, wie mit einer Ringspezies umzugehen ist.

Eine Ringspezies ist ein Gruppe von Populationen, nennen wir sie A, B, C und D, für die gilt: Eine Kreuzung zwischen Angehörigen von A und B ist möglich (eventuell hinzuzufügen, je nach genauer Definition: und kommt in freier Wildbahn vor), wobei auch der Nachwuchs fruchtbar ist; desgleichen zwischen B und C sowie zwischen C und D. A und D, jedoch, sind nach obiger Definition, isoliert betrachtet zwei verschiedene Spezies, da eine Kreuzung unmöglich ist.

Ein Dialektkontinuum ist eine Gruppe sprachlicher Varietäten, nennen wir sie A, B, C und D, für die gilt: Eine Verständigung zwischen Sprechern von A und B ist, ohne auf eine Verkehrssprache auszuweichen und ohne dass einer von beiden die Varietät des anderen je gelernt hätte, weitgehend unproblematisch; desgleichen zwischen B und C sowie C und D. Damit wird jedoch nicht impliziert, dass sich Sprecher von A und D verständigen können; das kann durchaus schwer bis unmöglich sein, was sie zu verschiedenen Sprachen machen würde ("Abstandsprache", sagen die Philologen).

Ein Beispiel aus der Praxis: Ein Wiener versteht relativ mühelos Oberösterreichisch, und umgekehrt (von einigen speziellen Begriffen abgesehen), ein Oberösterreicher Niederbayrisch, ein Niederbayer Oberfränkisch, ein Oberfranke Mittelfränkisch, ein Mittelfranke Rheinfränkisch, ein Sprecher des Rheinfränkischen Limburgisch und ein Sprecher des Limburgischen Flämisch. Setzt man jedoch einen Wiener und ein Flamen zusammen, so werden sie wohl auf Englisch ausweichen (und ein ernsthaftes Problem haben, sollte einer der beiden kein Englisch sprechen und sollte sich auch sonst keine gemeinsame Sprache finden).

Sind also Flämisch und Wienerisch "Sprachen" oder Dialekte einer einzigen Sprache, nennen wir sie ganz neutral "kontinentales Westgermanisch"? (Der Begriff "continental West Germanic" ist übrigens in der Linguistik nicht unüblich, wenn verschiedene Varianten dieses Kontinuums verglichen werden sollen.) Die Antwort liegt jenseits des Gegenstandgebiets der Sprachwissenschaft wie ich sie verstehe. Es gibt aber eine politische Antwort: Wienerisch ist ein deutscher Dialekt, und Flämisch ein niederländischer, beides aufgrund historischer Zufälle. Der Haken an dieser Definition: Analog ist auch Ostlimburgisch ein deutscher Dialekt, und Westlimburgisch ein niederländischer. Leider, leider, fällt es selbst Muttersprachlern schwer, diese beiden Varietäten zu unterscheiden...

Wieder einmal ist die Sprachwissenschaft, je nach Blickwinkel, eine abtrünnige Geisteswissenschaft, die sich mit der "bösen" Biologie verbandelt, um gemeinsame Konzepte auszuarbeiten; oder eben eine von den "schwammigen" Geisteswissenschaften in Geiselhaft genommene Naturwissenschaft. Ich plädiere für zweiteres, nicht zuletzt da der Vergleich zwischen Dialektkontinua und Ringspezies bei weitem nicht so verbreitet ist, wie man aufgrund der offensichtlichen Parallelen vermuten könnte: Google liefert auf Deutsch 0 (in Worten: null) Ergebnisse, auf Englisch gerade mal 22, wenn man gleichzeitig Ringspezies und Dialektkontinuum sucht. So weit haben wir uns also von unseren nächsten Verwandten entfernt...

Es gibt aber unbestreitbare Unterschiede zwischen einem Dialektkontinuum und einer Ringspezies: Während die Paarungsunfähigkeit nach bisherigen Erkenntnissen ein "point of no return" ist, kann die gegenseitige Verständlichkeit durch intensiven Kontakt wiederhergestellt (schreibt man das nach der Neuen "Rechtschreibung" getrennt? Well, I don't really care) werden. Irgendwo ist die Linguistik somit tatsächlich schwammiger als die Biologie, und damit vielleicht wirklich eine "Geisteswissenschaft" (um nicht zu sagen: "Geistes"-"Wissenschaft") (?).

02 November, 2006

Living in the Past oder wir waren Weltklasse

Living in the Past

The University of Vienna is among the worlds top sites for innovative and influential research. Within a decade, it has been home to six Nobel laureates. Other people working here, never awarded with this distinctive prize but no less influential for the future developement of their disciplines, include: Kurt Gödel in mathematics, Siegmund Freud in psychology, Ludwig Wittgenstein and Karl Popper in philosophy; even in linguistics, Nikolai S. Trubeckoj is working here, who may be called the founder of Phonology, for all the flaws his theories may have from a present day perspective. If you are searching for a leading scientist and don't know where he (unfortunately, rarely ever she) is from, it's a good idea to check Vienna first.

This was in the decade 1927-1936. In the last seventy years, only two people from Vienna University recieved the distinction, and of the other people working at the university, I cannot think of a single one that comes anywhere close in significance to the ones mentioned above. 1938 and the Nazi terror (well supported by a significant part of the local population, and major groups in academia) put an abrupt end to this period. Many of Vienna's most excellent researchers where killed or fled the terror, most never came back, many where never officially invited to return. Vienna started to get covered in the dust of provinciality and insignificance, which it suffers up to this day. Others, who were not personally endangered, chose not to work under such an impoverished environment. And, yes, yet others arranged themselves with the regime.

Nonetheless, even today the University has a list of its Nobel laureates linked very prominently from its homepage. The list does not include a discussion of the historical tragedy, only when reading the biographies of the laureates, it turns out that three out of six where forced to emigrate in 1938.

Link: http://www.univie.ac.at/archiv/tour/21.htm

Forward and don't look back


70 years after this golden time, political leaders of different parties want Austrian academia to get rid of the dust. We're going to become world class, the proclaim, we need centres of excellence. If you think they want to promote a more open and cosmopolitian atmosphere at our universities, you are sadly mistaken. Indeed, they are not speaking of any of the existing universities; they carefully avoid to mention our previous age of excellence - apparently it is to much of a hot potato for at least one of the parties involved. What they want to do is found a new research institute, with international staff and every kind of equipment needed, outside of Vienna and beyond of reach for mostly everyone here. It will be focussing on Technology and Applied Sciences, totally ignoring our great history at the foundations of science and philosophy. And the existing universites? May they rot in the dust of the centuries, may provinciality be paired with lack of funding, insignificance with impoverishment in research areas. Whatever. Doesn't matter. People there are too rebellious anyway, better get rid of them.

Link: http://www.bmbwk.gv.at/fremdsprachig/en/science/ista.xml

Quotes and Signatures

Einige Zitate oder eigene Aphorismen, die ich im Laufe der letzten Zeit so als E-mail-Signatur o.ä. in Verwendung hatte:

Im Übrigen bin ich der Meinung, dass "homo sapiens" in "pan verbalis" unbenannt werden sollte. Allein schon weil wir öfter sprechen als denken.

Mind is to culture what physics is to biology.

Es sind nicht alle frei die ihrer Ketten spotten (Gotthold Ephraim Lessing, Nathan der Weise IV:4).

Funktionalisten sind Menschen, die Nutztiere in Milch-, Zug- und Tragtiere unterteilen. Die Biologie spricht von Paarhufern und Unpaarhufern.

Did the devil make the world while God was sleeping? (Tom Waits, "Little Drop of Poison", Bawlers/Orphans)

Es ist eine verkehrte Welt, in der die Liebe als gefährlicher gilt als der Hass (eigene Idee).

Wissenschaft ist Unwissen auf hohem Niveau (eigene Idee).

Science is the business of asking the right questions. Knowing answers belongs to the respectable trades of religion, politics, and medicine (eigene Idee).

A protein cluster and proud of it (eigene Idee).

The expressions have not been established to signify the external objects, but they have been established to signify the conceptual meanings (ar-Râzî)

By the way, der erste Schnee...